In den letzten Jahrzehnten hat sich unser Verhältnis zu Getreide dramatisch verändert. Was über Jahrtausende eines der grundlegendsten und vertrautesten Nahrungsmittel war, wird für immer mehr Menschen zum gesundheitlichen Problem. Der Anbau von Weizen und Roggen wurde durch intensive Züchtung, mutagene Verfahren und industrielles Saatgutmanagement tiefgreifend verändert. Das Korn wurde leistungsfähiger, aber auch fremder.
Wer nach den tieferen Gründen für diese Entwicklung sucht, begegnet bald mehr als nur technischen Details. Denn rund um das Getreide ranken sich seit jeher Mythen: von fruchtbaren Ähren, Opfergaben, Erntedank und heiligen Kreisläufen. In den mythologischen Urbildern Europas erscheint die Fruchtbarkeit der Felder nicht als technischer Vorgang, sondern als heiliger Kreislauf, gehütet von einer archetypischen Macht: Ceres, die römische Entsprechung der griechischen Demeter, ist nicht nur die Spenderin von Korn und Nahrung. Sie ist Mutter, Trauernde, Gesetzgeberin und Schattenhüterin zugleich. Und ihr Reich umfasst mehr als nur das sichtbare Wachstum: Es reicht in die Tiefe, bis an die Schwelle zum Tod.
In dieser Tiefe wuchs auch etwas anderes: das Mutterkorn (Claviceps purpurea). Ein Pilz, gefürchtet, giftig, halluzinogen, heilend. In seiner Ambivalenz ist er ein direkter Spiegel der Ceres.
Heute, im Zeitalter mutierter Getreide und kontrollierter Agrarwirtschaft, ist das Mutterkorn fast verschwunden. Mit ihm aber scheint ein Teil der mythologischen Verbindung zur Erde verloren gegangen zu sein. Nun, da Zöliakie, Glutenunverträglichkeiten und chronische Entzündungen rasant zunehmen, lohnt es, diese symbolische Leerstelle genauer zu betrachten. Was sagt es über unsere Kultur, dass das Korn zwar weiter wächst, aber nicht mehr nährt? Und was geschieht, wenn der Schatten der Mutter verdrängt wird? Was aus dem Bewusstsein verbannt wird, drängt aus dem Unbewussten zurück. Oft in verzerrter, wilder Form.
Ceres: Die Gebende und die Fordernde
In der Mythologie ist Ceres nicht nur die freundliche Mutter der Ernte. Sie ist auch jene, die das Wachstum verweigert, wenn ihr etwas genommen wird. Als ihre Tochter Persephone von Hades in die Unterwelt entführt wird, zieht sich Ceres aus der Welt zurück. Die Erde verdorrt, der Winter des Herzens breitet sich aus. Erst als Persephone zurückkehren darf, wenn auch nur teilweise, schenkt Ceres den Feldern wieder Fruchtbarkeit.
Fruchtbarkeit ist kein linearer Prozess. Sie ist zyklisch. Sie kennt das Blühen, das Sterben, das Trauern, das Wiederkehren. Kennen wir diesen Zyklus noch in unserer produktionsintensiven Welt?

Ceres ist daher nicht nur die gütige Mutter, sondern auch die unnachgiebige Richterin, die Hüterin der Ordnung, die Sanktionierende. Ihre Gaben sind segensreich – aber sie sind an Beziehung gebunden. Wer sät ohne Respekt, wer erntet ohne Opfer, verliert das rechte Maß. Und dieses rechte Maß zu halten, war Jahrtausende lang Aufgabe der rituellen, spirituellen und kulturellen Beziehung zur Natur.
Mutterkorn: Das dunkle Kind der Ähre
Mutterkorn ist ein Pilz, der Getreide befällt, vor allem Roggen. Statt einer gesunden Kornfrucht bildet sich ein dunkler, hornähnlicher Auswuchs – das Mutterkorn. In der Geschichte war es gefürchtet, weil es in hoher Dosis zu Ergotismus führen kann: Halluzinationen, Wahn, Krämpfe, Nekrosen. Ganze Dörfer litten darunter, und das Mutterkorn galt als Zeichen eines Fluchs.
Doch gleichzeitig war es Heilmittel: Die Wirkstoffe des Mutterkorns wurden genutzt, um Geburten einzuleiten, um Blutungen zu stillen, um das Bewusstsein zu erweitern. In der Neuzeit bildete es die Grundlage für LSD. Und manche vermuten, dass es Bestandteil des „Kykeon“ war – jenes rituellen Tranks, der in den Eleusinischen Mysterien den Initiierten die Begegnung mit dem Tod ermöglichte, ohne zu sterben.
Das Mutterkorn ist also kein Schädling im technischen Sinn. Es ist ein Grenzwesen. Es zeigt an, dass etwas im Feld nicht stimmt und dass umgewandelt oder gar transzendiert werden darf. Es ist die aufscheinende Schattenseite der Ähre, das Dunkle im Licht, das Gift im Brot. Systematische Kontrollen haben den Blick der Allgemeinheit auf das Thema immer mehr schwinden lassen. Durch Wildgräser an Feldränden und bei feuchter Blüte hat Mutterkorn nach wie vor die Chance aufzukommen, doch die Landwirtschaft ist ausgerüstet mit Diagnostik, sodass das Thema kaum weiter drängt. Doch wäre es spannend, Mutterkorn wieder mit Achtsamkeit und Beziehung begegnen. Nicht weil wir es zurück ins Brot holen wollen, sondern weil wir wieder lernen müssen, seine Botschaft zu hören – als Teil eines größeren ökologischen und kulturellen Dialogs.


Mutagenese und das stumme Korn
In den letzten 40 bis 50 Jahren hat sich die Getreidezüchtung dramatisch verändert. Nicht mehr nur durch klassische Kreuzung, sondern durch gezielte Mutagenese mittels Chemikalien und (radioaktiver) Strahlung. Ziel war die Verbesserung von Ertrag, Verarbeitung, Widerstandsfähigkeit. Doch steckt diese Information nicht auch im Feld?
Die Auswirkungen sind tiefgreifend: Die modernen Getreidesorten sind dichter, eiweißreicher, aber schwerer verdaulich (erhöhte Glutinin-Gehalte). Sie enthalten auch leicht veränderte Gliadin-Varianten (Bestandteil von Gluten, gegen das z. B. bei Zöliakie Antikörper bestehen). Interessanterweise aber gibt es keine Veränderungen im Gluten-Gehalt selbst, nur dessen Zusammensetzung. Gliadin kommt sogar weniger vor, Glutinin mehr und die Anzahl immunreaktiver Peptide ist gleich. Bei alten Sorten wie Einkorn und Kamut können letztere sogar höher sein. Und dennoch verträgt ein Teil glutensensitiver Menschen die alten Sorten, die neuen Sorten jedoch nicht. Studien geben ebenso an, dass Umweltbedingungen wie das Wetter Protein- und Glutenzusammensetzung viel stärker beeinflussen. Also doch, die Umwelt, das Feld, die Information darin. Nicht von der Hand zu weisen ist: Zöliakie, Glutenunverträglichkeiten, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen steigen stark an.
Archetypische Deutung: Die verdrängte Schattenmutter
Was bedeutet das auf einer tieferen Ebene?
Wenn Ceres für das Gleichgewicht von Gabe und Grenze steht, für Kreislauf und Wandlung, dann ist die heutige Getreidewirtschaft Ausdruck einer kulturellen Verdrängung dieser Ordnung. Wir wollen Ertrag ohne Opfer, Nahrung ohne Beziehung, Wachstum ohne Tod. Und wir haben die Stimme der Schattenmutter ausgeschaltet, indem wir das Mutterkorn aus den meisten Köpfen verbannt haben.
Doch Archetypen verschwinden nicht. Wenn sie nicht integriert werden, kehren sie verzerrt zurück. Und je stärker wir sie verdrängen, desto massiver werfen sie ihre Schatten aus dem Unbewussten. In Form von Allergien, Abwehrreaktionen, Erschöpfung. Unser Immunsystem rebelliert nicht nur gegen Moleküle, sondern gegen die Beziehungslosigkeit der Nahrung. Es sagt: Das hier trage ich nicht. Das hat keine Wurzel, keine Wahrheit, keine Verbindung.
Erinnerung und Rückbindung
Vielleicht ist es an der Zeit, nicht nur von Nahrungsmittelunverträglichkeit zu sprechen, sondern von einem spirituellen Entzug. Wir haben das Mutterkorn als Bedrohung betrachtet, weil wir seine Botschaft nicht mehr lesen konnten. Aber früher war es vielleicht eine Initiation: eine Erinnerung daran, dass Nahrung auch Schatten hat, dass Geburt Schmerz kennt, dass Wahrheit nicht nur Licht ist.
Ein Korn, das keine Dunkelheit mehr kennt, kann uns nicht mehr ganz nähren.
Wenn wir Ceres wieder ehren wollen, müssen wir auch ihre dunkle Schwester anerkennen: Die, die nimmt, bevor sie gibt. Die, die wandelt, bevor sie heilt. Die, die sagt: Ohne Beziehung keine Gabe.

Ausblick
In einer Zeit, in der wir nach neuen Formen der Heilung, der Erdung, der Nährung suchen, lohnt es sich, den Blick zurück zu wenden: auf das Mutterkorn, auf die verlorenen Felder der Göttinnen, auf die Schattenseite der Fruchtbarkeit.
Nicht aus Nostalgie, sondern aus Notwendigkeit. Denn die Erde spricht noch. Nur anders. Und manchmal, ganz leise, zwischen den Ähren, hört man vielleicht ihre Stimme.
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